Geschichten, die das Leben schreibt

Es war der Freitag nach Himmelfahrt 2014. Auf Ihrem Weg zur Arbeit – genauer gesagt zum Spätdienst, es muss so gegen 10 Uhr gewesen sein – bemerkte eine Kollegin, dass sie verfolgt wurde … zumindest erschien es ihr erst einmal so … Auf dem ansonsten menschenleeren Domplatz (wahrscheinlich saßen die meisten Halberstädter noch gemütlich am Frühstückstisch und genossen das – für sie – verlängerte Wochenende, während der klägliche Rest bereits seit Stunden am Arbeitsplatz hockte) war ein einzelner Mensch direkt hinter ihr aufgetaucht. Er hielt Schritt, schien sich genau in ihrem Windschatten zu befinden und atmete schwer. Unschlüssig, ob sie ihrem Verfolger und damit der möglichen Konfrontation ins Auge schauen oder schnellstmöglich die Flucht ergreifen sollte, beschleunigte sie erst einmal ihren Schritt … er auch … Was nun? Zwar hatte sie den Domplatz fast vollständig hinter sich gebracht, doch das rettende Ufer in Form der Bibliothek war einfach noch zu weit weg um zu rennen … erst recht in diesen Schuhen … Strategiewechsel: Sie blieb stehen, kramte in ihrer Tasche und musste dringend nach etwas suchen – wenn der Verfolger jetzt auch stehen bleiben würde, dann konnte sie ihm im Fall eines Angriffs die Tasche über den Kopf ziehen und doch noch versuchen zu rennen. Aber: er ging weiter … schnurstracks an ihr vorbei. Nun erklärte sich auch das schwere Atmen: Bei diesem herrlichen, sonnigen, warmen Wetter trug er einen dicken schwarzen Kapuzenpullover … und hatte die Kapuze auf!
Dass sie ihn für einen komischen Kauz hielt, muss an dieser Stelle wohl nicht näher erklärt werden – ich gebe hier schließlich ihre Schilderung des Vorfalls wieder. Nun, da er an ihr vorbei gezogen war, konnte sie ihren Weg zur Arbeit fortsetzen und hatte ihn dabei noch dazu bestens im Blick. Sie dachte noch: „Na, er wird doch wohl nicht etwa zu uns wollen?!“, als sich deutlich abzeichnete: doch, er wollte! Als sie wenige Minuten – oder vielleicht eher Sekunden – nach ihm die Bibliothek erreichte, schien er die Tür und Außenwand zu studieren, als ob er etwas suchte. Er tastete vorsichtig die Mauern ab und ruckelte an der Tür. Er sah sie und sagte: „Ich muss da rein, ich muss in den Keller!“ „Wir öffnen um 11 Uhr. Es ist noch geschlossen! Zu unseren Öffnungszeiten können sie gern in den Keller, dort befindet sich die Kinderbibliothek.“, sagte sie freundlich, aber bestimmt während sie an ihm vorbei ging, die Tür aufschloss und blitzschnell in der Bibliothek verschwand.
Was nun folgte, können Sie sich vielleicht denken: Hier arbeiten ausschließlich Frauen zusammen: Binnen 30 Minuten wussten alle Bescheid, dass damit zu rechnen sei, dass ein Besucher mit zweifelhafter Absicht erscheinen werde, dessen ganzes Auftreten bereits auf eine gewisse „Schrulligkeit“ hindeute und Frau R. ein mulmiges Gefühl beschert hatte.
11 Uhr: Die Bibliothek öffnete. Und wer kam herein? Erst einmal ein Leser! Doch direkt hinter ihm war der „Kapuzenpulli-Mann“.
Etwas abseits der Ausleihtheke lehnte er sich an eine Säule und bekräftigte, was wir bereits wussten: er müsse ganz dringend in den Keller – jetzt sofort – es sei sehr wichtig. „Im Keller befindet sich die Kinderbibliothek, die Sie natürlich gern besichtigen können.“, begann die freundliche Mitarbeiterin und wollte ihm gerade den schnellsten Weg beschreiben, als er sie vehement unterbrach: „Nein, ich muss richtig in den Keller.“ „Ach, Sie meinen den Veranstaltungskeller. Der ist leider nur für Veranstaltungen und daher nicht täglich öffentlich zugänglich.“ „Ich muss da aber sofort rein! Ich habe da etwas versteckt! Es ist sehr wichtig!“ „Sie haben da etwas versteckt?“ „Ja! Ich habe da meine Kiste versteckt mit dem Steinschwert vom kleinen Roland. Das brauche ich! Ich muss Halberstadt retten!“
Zu seinem Glück war er mit Frau M. an diejenige Mitarbeiterin geraten, die am verständnisvollsten auf solche – wie drückt man es freundlich aus … hm … das geht hier wohl nicht – Psychosen reagiert. Sie ging bestmöglich auf seine Aussage ein: „Ich verstehe, Sie wollen Halberstadt retten, aber wir können Sie leider nicht einfach in den Keller lassen.“ Und mit einer Geste pathetischer Selbstlosigkeit und einer Miene, die keinen Widerspruch zuließ antwortete er: „Ich will nicht, ich muss! Ich MUSS Halberstadt retten!!!“

Nun fragen Sie sich, liebe Leser, wie ist Frau M. da rausgekommen? Ganz einfach: Sie schickte ihn eine „Tür“ weiter: in die Verwaltung – immerhin ist das auch der Domplatz 49 und es gibt auch dort einen Keller, wo er sein Glück versuchen sollte. Leider hat die Verwaltung am Freitag nach Himmelfahrt in der Regel Brückentag und somit geschlossen (so auch 2014), was dazu führte, dass er – und das war das letzte Bild, das wir an jenem Vormittag von ihm sahen – schließlich versuchte das Tor zu erklimmen, in seiner noblen doch scheinbar aussichtslosen Mission, Halberstadt zu retten …

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